22
Aug
2010

Der Zug ist abgefahren

Im steilen großen Theater von Kampnagel ganz oben. Geschrei und Bilder, Videos und Freaks auf der Bühne. Um mich herum der Geruch junger Menschen, teilweise lachend, teilweise in die Leere starrend, ab und zu ins blaue Licht gehüllt. Kein ruhendes Theaterlicht, nur ein Flackern. Menschen aus Burkina Faso und überall. Remdoogo klingt und leuchtet alles, so wie das Opernhaus mal heißen soll. Die kommen dort nicht zur Ruhe. Das Chaos übermannt auch mich, bis die Bilder sich fügen, ich eine deutliche Ästhetik erkenne und mich mit dem Stück finden will. Da erscheint der noch junge, noch tobende, noch „Scheiße“ schreiende und von Krebs gezeichnete Christoph Schlingensief auf der Bühne und sagt: Gebt nur Geld für dieses Projekt und gebt endlich euren europäisch selbstgefälligen Altruismus auf. Sinngemäß sagt er das, deshalb steht das auch nicht in Gänsefüßchen, denn Schlingensief steht nicht in Gänsefüßchen. Schlingensief ist präsent und beschäftigt, er ist ein Star und ungefällig und in seiner Angegriffenheit schön.

Und ich verstehe: für sozialpädagogische Suppentöpfe mit Betroffenheitshintergrund für dürre, unterernährte Menschen mit brauner bis schwarzer Haut, aus denen diese riesigen Augen herausschauen, ist der Zug abgefahren.

Schlingensief will keine Almosen, er will seine Kunst und die überall zeigen und das kostet, vor allem Schweiß und Geduld der Menschen, die irgendwo hingehen, damit es ihnen gefällt. Mir hat der Abend nicht gefallen, aber er ist tief haften geblieben, hat Eindrücke und eine unruhige Haut hinterlassen.

Jetzt hat jemand da im Raum vielleicht ein bis zwei Mal mehr nachgedacht, weil es so herzig ist, wenn ein sterbender Mensch so aktiv ist und soviel mehr will, als er noch erfüllen kann. Der Zug ist jetzt auch abgefahren und die Herzen flattern ihm zu, oder überlegen zumindest ob sie flattern wollen, dazu wäre einem gesunden jungen Regisseur wieder eine schöne ach so erregende, ach so provokante und ach so aufrüttelnde Geschichte eingefallen.

Früher hätte man die Töchter und Söhne wegen so einem unbedingt festgehalten. Beruhigt euch ihr Menschen. Der Mensch mit dem Gewirr von Bedeutungsebenen ist nicht mehr. Das ist kein Trost, dass ist hoffentlich nur ein kurzes Durchschnaufen.

(Zum Tode von Christoph Schlingensief)

22. August 2010
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