Befindlichkeiten

19
Jun
2010

Alte Frau

„Alte Frau ist kein D-Zug“, pflegte meine Oma immer zu sagen. Sie sagte es zu jedem Anlass. Auch, wenn es überhaupt nicht passte. Wir mussten immer die Fußgängerbrücke überqueren, welche über die Schnellstraße führte, um von meinen Eltern zur Oma zu gelangen und umgekehrt. Manchmal holte mich Oma mit ihrem Pudel ab. Sie hielt auf der Brücke drei Mal an. Sie verschnaufte und sagte dann: „Das Herz!“ Ich schaute immer über das Geländer zum weiß getünchten Haus von Dr. Brettschneider hinunter.

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28
Mai
2010

Lächeltraining

Der Trainer hat eine scharfe und laute Stimme. Du musst die Mundwinkel hochziehen und sie oben lassen. Du lächelst freundlich vor deinem Spiegelbild. Du strahlst Zufriedenheit aus, Wärme und Wohlstand und gleichzeitig Genügsamkeit. Du bist ein großzügiger Mensch. Du teilst gerne mit anderen deinen Mit. Du atmest tief, wie ein Wolf. Du lächelst stark und überzeugend, während der Trainer beidseitig Wattestäbchen in deinen Gehörgang bohrt und mit einem kalten Waschlappen über deinen Nacken fährt. Du lächelst, während er mit einem kochend heißen Waschlappen deine Stirn berührt. Du behältst die Mundwinkel oben.

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20
Mai
2010

Theater

Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich grad bei Ingo angefangen. Er bewegte seinen Rollstuhl noch selbstständig durch die Wohnung, lächelte oft von mild bis äußerst fröhlich und sah mir zu, wie ich das Gemüse schnippelte. Er war heiß auf Bratwurst, aber gesunde Ernährung stand auf dem Spielplan. Er war durchaus in der Lage dieses lächelnd hinzunehmen. Schließlich wollte er hundert Jahre alt werden, auch wenn ihm immer bewusst war, dass seine Krankheit dies verhindern würde.

Damals hatte sich grade meine Theatergruppe aufgelöst mit der schönen Frau Anuschka Maria Krohn.

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grab iphone

16
Mai
2010

Nachhaus

So windig dieser Norden. Die Kastanienbäume vor dem Fenster. Vom Sturm bewegt. Sie zerteilen den Himmel. Sie zerteilen das Licht. Ich gehe aus dem Haus und schaue in den Wind. Ich suche Mut in den morschen Knochen. Ich suche Kraft im Tag und neues Lachen. Du gehst Nachhaus. So stark und unverwechselbar klar in einem Kopf aus Leben und in einem Kopf aus Tod. Bis Morgen. Ich sehe zu, wie die Blumen für dich welken.


16. Mai 2010

nachhaus - ingo

14
Mai
2010

Kartoffelsuppe mit Einlage

Seit ca. 60 Jahren gibt es bei meiner Mutter am Samstag Kartoffelsuppe mit Einlage. Es hat sich hier die Philosophie herauskristallisiert, dass die Suppe gut sein muss, aber dass es besonders auf die Einlage ankommt. Eine gute Einlage macht nicht nur satt, sondern schmeckt auch. Bei einer guten Einlage braucht man kein Brot dazu. Brot dazu ist nett und gesellig, aber meine Mutter hat den Ehrgeiz ohne Brot auszukommen. Denn eine Suppe soll an sich satt machen, auch wenn die Einlage dazu, mehr als die Suppe an sich ist. Nämlich Suppe mit Einlage. Aber meine Mutter mag es einfach, wenn man nach der flüssig sämigen Suppenkonsistenz auf eine festere Einlagenkonsistenz trifft. Dann hat man das Gefühl, was Richtiges zu haben, auch wenn es nur die Suppe gibt.

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13
Mai
2010

Der moderne Vatertag

Vater ist sportlich. Er trinkt nicht und wenn, dann nur auf die Gesundheit. Deshalb bleibt er zuhause, bei seiner schicken Tochter. Er schenkt ihr Ohrringe mit Strasssteinen, ein langes helles Kleid und eine vergoldete Spange. Sie trägt heute die Locken offen und diese fallen sanft auf ihre Schultern.

Sie studiert Modedesign und Männer ab 35. Vater macht ihr Lieblingsessen: verbrannte Bratkartoffeln mit Rührei und gebrannte Mandeln.

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7
Mai
2010

Wenn der richtige Buchstabe kommt

Wenn der richtige Buchstabe kommt, dann musst du aber auch Nicken Ingo!“

Aber manchmal kommt der richtige Buchstabe eben nicht. Ich habe das Alphabet nun vier Mal aufgesagt und der richtige Buchstabe war nicht einmal dabei. So kommen wir aber nicht wirklich weiter. Die Sonne scheint ins Zimmer, dem Ingo direkt ins Gesicht. Also Jalousien zu, statt Alphabet.

„Deine Werte sind gut Ingo. Kein Fieber!“ Ich vergesse Ingos Satz. Dann formt er aber noch mal seine Lippen. Hoch konzentriert gibt er alles. Ich bin allerdings damit beschäftigt, wo wir stehen geblieben waren.

„War das Englisch oder deutsch?“ Man weiß es nicht so genau. Draußen hat sich’s wieder bezogen. Jalousien können wieder auf. Und irgendwie ist es warm. Kurz lüften und Heizung aus.

„Meintest du m?“
„Meintest du n?“
„Ich kann das nicht erkennen, wenn du nicht deutlich nickst.“

Diese blöden Geräte piepen aber auch immer dann, wenn gleichzeitig das Telefon klingelt und jemand an der Tür steht. Ingo zieht die Brauen hoch.

„Deine Füße sind so kalt und deine Hände so warm!“
„Kriegst du gut Luft? Nein, du wolltest mir ja was ganz anderes sagen!“

Der Satz schwebt im Raum. Ich kümmere mich um den Satz, denn er ist schon seit einiger Zeit das Wichtigste hier. Den Ingo Nachtfertig machen kann ich eindeutig erst nach diesem Satz. Der Hund bellt. Da ist aber niemand.

„C’est la vie!“, sage ich und sehe ihn an. Er lächelt und nickt.
„Dass war der Satz, den du die ganze Zeit sagen wolltest?“ Ingo nickt. Das war ein Ausspruch, mehr als ein Satz. Das war das Leben. Und dann formen seine Lippen etwas Neues. Bloß dass nicht. Aber diese Worte erkenne ich zum Glück mittlerweile sofort: „Shit happens!“

Jetzt bin ich drin und auch gut drauf und könnte mich den ganzen Abend mit ihm weiter unterhalten. Leider ist Ingo aber sehr müde.



7. Mai 2010

4
Mai
2010

Tanz die Reihe aus

Sie hören dich reden. Sie sehen dich tanzen. Sie sehen dich bluten. Hast du Nadel und Pfaden bereit? Deine Uniform ist aus Haut. Deine Universität ist die Straße. Dein Freund ist der Barmann.

Sie sehen dich den Rasen mähen. Sie hören dich singen.

Du teilst den Puls mit ihnen, ohne dass du es merkst. Du schaust nach Blumen im Park. Du pflückst Sprengköpfe. Du trennst Müll. Dein Schritt ist nicht grade. Tanz.

Tanz.

Tanz aus der Reihe. Tanz die Reihe aus.

Sie hören dich Butterbrote schmieren. Mit Wasser im Mund, sehen sich dich picknicken. Du findest essbare Pflanzen. Sie fahren mit schwarzen Limousinen vor. Sie landen mit Helikoptern auf Hochhäusern. Sie sind im Anflug. In Reih und Glied.

Tanz die Reihe aus.



4. Mai 2010

2
Mai
2010

Zungenherz

Martin Pfleger ist Holzspielzeugberater und passionierter Pingpong Hobbyist. Er liebt den Klang von Pingpongschlägern auf Frauenhintern. Wenn sie an einer roten Fußgängerampel stehen, zack, fährt er die Kelle aus, wie ein Fluglotse und blitzschnell setzt er zur Landung an. Auf diese Weise ist es schon zu manch interessantem Kontakt gekommen. Frauen mit Verständnis für Männer mit originellen Zwanghaftigkeiten sind oft froh, aus ihrem Alltag gerissen zu werden und so ein gutes Gespräch über Kind und Kegel führen zu können. Das Balg wird freilich zu diesem Zwecke beim nächst besten Kinderparadies eines Kaufhauses abgegeben.

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30
Apr
2010

Die endliche Schwierigkeit des Seins

Er ist Schauspieler und Mädchenschwarm. Er tätowiert seinen Groupies Figurbewertungen in ihre Innenschenkel, wenn sie schlafen. Ansonsten gilt er als scheu. Er tritt immer mit Sonnenbrille und Bademantel vor sein Hotelzimmer und gibt kurze Interviews. Er antwortet beinahe ausschließlich in Einwortsätzen. Dann lässt er die Meute wieder entfernen und entschuldigt sich leise und mit Demut in der Stimme. Nun ist er wieder allein mit sich und dem Fernseher. Er schnitzt Kerben in jedes Hotelgerät und malt kunstvolle Verzierungen auf die Mattscheibe. Früher bekam er Rechnungen wegen Sachbeschädigung, heute verkaufen die Hoteliers die Werke auf Kunstauktionen und erzielen Höchstpreise.

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